Sommerbrief Sigmar Gabriel: Was zu tun ist in Deutschland

Veröffentlicht am 15.07.2011 in Bundespolitik

Bild: SPD-Parteivorstand

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde,

die parlamentarische Sommerpause hat begonnen, und trotzdem wird es in der Bundespolitik unruhig bleiben: Ob Euro-Krise, Schuldenmisere, Steuerdebatte, Panzer-Deal, Bildungsprobleme, Altersarmut, Pflegenotstand oder manch andere Themen – diese Bundesregierung lässt alles ungelöst. Stattdessen wird die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP auch in der Sommerzeit unentwegt und ohne Ergebnis streiten. Die wahre Ursache für diese Unfähigkeit zu regieren, ist die völlige Ziel- und Richtungslosigkeit von Kanzlerin Merkel. Was gestern noch galt, wird heute über Bord geworfen, und was morgen kommen wird, ist völlig unklar.

Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind längst ernüchtert auf der Suche nach einer Alternative. Dabei geht es nicht nur um einzelne Gesetzesinitiativen oder Einzelforderungen. Die Menschen suchen nach Orientierung und nach einer Idee, wie es in unserem Land und in Europa weitergehen soll. Dafür haben wir Sozialdemokraten viel anzubieten: Unsere Idee einer sozialen Gesellschaft. Wir brauchen in Deutschland und Europa einen neuen Aufbruch und neuen Fortschritt für diese Idee einer sozialen Gesellschaft, die unserem Gemeinwesen Inhalt, Zusammenhalt und Richtung gibt.

Deutschland wird schlecht regiert.

„Die können es einfach nicht“ – wäre das zur Mitte der Wahlperiode nur das Urteil der SPD-Opposition über die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP, die Kanzlerin Angela Merkel könnte beruhigt in die Sommerfrische abreisen. Es ist aber längst auch das Urteil der Mehrheit der Deutschen. Nie zuvor waren sich selbst konservative Unternehmer und Journalisten in ihrem Urteil über eine Bundesregierung so einig. Was könnte Union und FDP, die sich stets als „natürliche“ Regierungsparteien sehen, härter treffen? Die Gründe dafür sind bekannt: Es fehlt an politischer Führung, es fehlt an Mut und klarer Prioritätensetzung und an Erklärungskraft durch die Regierenden. Die Bundesregierung tut nicht, wofür sie gewählt wurde: nämlich ordentlich regieren. Unternehmer und Wissenschaftler sind einig: Die jetzige gute wirtschaftliche Entwicklung ist ein Aufschwung nicht „wegen“, sondern „trotz“ der antriebs-und führungslosen Koalition aus Union und FDP.

Politik erscheint nur noch als zynisches Machtspiel – Nirgendwo geht es mehr um die Sache.

Auch die Bürgerinnen und Bürger – enttäuscht und ermüdet vom ständigen Streit und den Sticheleien zwischen den Koalitionären – wenden sich mit Grausen ab. Ob Euro-Krise, Energiewende, UN-Sicherheitsrat oder die immer wieder kehrende Steuersenkungsdebatte – längst hat sich die Koalition in eine Dauertalksendung ohne Moderation verwandelt. Eine Dauerwerbesendung für Politik ist dieser Zustand indes nicht. Angela Merkels rücksichtslose Kehrtwenden gegenüber allem, was sie noch kurz zuvor mit allem ihr zur Verfügung stehendem Pathos als „alternativlos“ oder „zwingend“ bezeichnet hat, ermöglicht keinerlei Orientierung mehr. Schon seit langem haben viele Menschen das Gefühl, Politik habe keinerlei Sachbezug mehr, sondern sei nur ein zynisches Spiel um Macht und Machterhalt. Die aktuelle CDU/CSU/FDP- Regierung liefert dafür jeden Tag einen neuen Beleg.

Die Herausforderungen für unser Land wachsen – und die Spaltung nimmt zu.

Dabei gibt es genug zu tun: Die wachsende Staatsverschuldung macht den Bürgerinnen und Bürgern heute viel Sorge. Die Regierungen Europas schnüren immer neue Rettungspakete, finden aber keinen Weg aus der Euro-Krise. Nach wie vor fürchten Menschen trotz guter Wirtschaftslage um ihren Arbeitsplatz oder haben einen völlig unzureichenden Lohn. Der demographische Wandel ist nicht allein ein universitäres Seminarthema, sondern wird längst von vielen Menschen in ihrem eigenen familiären Umfeld erlebt, etwa bei der Pflege von Angehörigen. Die mangelnde Handlungsfähigkeit unserer Kommunen ist kein Klagelied der Kämmerer, sondern in Stadtteilen und Kiezen mit Händen zu greifen. Ebenso der erbarmungswürdige Zustand unserer Bildungseinrichtungen. Und wer einmal seinen Nachbarn beim Sammeln von Pfandflaschen sehen musste, braucht nicht den Armutsbericht der Bundesregierung, um zu wissen: Einkommen und Vermögen entwickeln sich in Deutschland rasant auseinander. Während selbst in der zurück liegenden Krise die Zahl der Vermögensmillionäre auf 860.000 gewachsen ist, besitzt etwa die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung überhaupt kein Vermögen. Die soziale Spaltung der Gesellschaft nimmt weiter zu.

Mehr Demokratie wagen – das ist auch heute die richtige Antwort.

Die Demokratie lebt aber davon, dass Menschen ihren gewählten Vertreterinnen und Vertretern nicht nur etwas abfordern, sondern auch etwas zutrauen. Die größten Gefahren für unsere Demokratie sind Ohnmacht, Apathie und Politikverachtung. Es kommt deshalb vor allem darauf an, Menschen wieder Mut zur eigenen Beteiligung und Einflussnahme zu machen. Auch in Bürgerinitiativen und in den Organisationen der Zivilgesellschaft. Aber eben nicht nur da. Denn am Ende braucht Deutschland (und Europa) auch demokratisch legitimierte Entscheidungen. Neben der dringend notwendigen Erweiterung unserer Verfassung für Volksabstimmungen auch auf Bundesebene, werden das Parlament und die dort gewählte Regierung der wichtigste Ort dieser Entscheidungen bleiben. „Mehr Demokratie wagen“ – dieser Ausruf Willy Brandts von 1969 - steht deshalb für die SPD heute wieder im Mittelpunkt ihrer Politik.

Die entscheidende Voraussetzung für diese „Ermächtigung“ der Bürgerinnen und Bürger, wie es Joachim Gauck genannt hat, ist eine Idee von Deutschland (und Europa), die uns nicht länger dazu verpflichtet, immer nur darüber zu reden, wie wir angeblich wegen des Drucks der Ökonomie oder der Globalisierung leben müssen. Es muss wieder darum gehen, wie wir leben wollen! Miteinander in einer sozial verantwortlichen Welt statt als Einzelkämpfer auf den Märkten. Selbstbestimmt und individuell, aber verbunden mit Verantwortung für andere. Als Deutsche mit einem vielfältigeren, bunteren und manchmal auch konfliktreicheren „Deutschsein“. Aber mehr denn je in einem gemeinsamen Europa, das mehr sein muss als ein gemeinsamer Markt. Wir haben als SPD daher gemeinsam mit unserer Schwesterpartei in Frankreich eine Initiative zur Einführung einer europäischen Transaktionsteuer auf Finanzprodukte gestartet. Damit die Verursacher der Krise endlich an deren Bewältigung beteiligt werden.

Nur die soziale Gesellschaft schafft das moderne Deutschland.

Es geht also um die Wiederentdeckung und die Wiederstärkung der sozialen Gesellschaft. Aus dem eigenen Leben etwas zu machen und trotzdem nicht zu vergessen, dass wir Verantwortung auch für andere haben. Die soziale Gesellschaft ist das Gegenmodell zu der seit 20 oder 30 Jahren vorherrschende Ideologie, jeder habe sich nur um sich selbst zu kümmern. Wettbewerb um jeden Preis lautete das Motto. Das Ergebnis dieses hemmungslosen Wettbewerbs war die gewaltige Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir bis heute nicht überstanden haben. Dieser Irrweg ist in Deutschland, Europa und weltweit gescheitert.

Die soziale Gesellschaft will Freiheit und Verantwortung wieder miteinander verbinden. In ihr wird wirtschaftlicher Erfolg und Wettbewerb nicht als alleiniges Ziel absolut gesetzt, sondern wird verbunden mit sozialem Fortschritt. Erfolgreiche Gesellschaften entspringen der gemeinsamen Anstrengung und der gemeinsamer Verantwortung aller für einander. Mit Wirtschaft und Wettbewerb allein sind ein modernes Deutschland und ein starkes Europa nicht zu erreichen. Diese Ziele erreichen wir nur, wenn Wirtschaft und Wettbewerb mit Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, sozialer und ökologischer Verantwortung für einander und kultureller Vielfalt verbunden werden.“.

In der sozialen Gesellschaft sollen die Spaltungen in unserer Gesellschaft überbrückt und überwunden werden. Die Spaltungen zwischen Wirtschaft und sozialer Sicherheit, zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, Deutschen und Zugewanderten, Gesunden und Kranken und auch zwischen Vermögenden und Nicht-Vermögenden. Diese soziale Gesellschaft ist zugleich das Leitbild für Europa und unser europäisches Angebot in der Welt. Dafür müssen sich verantwortlich handelnde Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliche Organisationen, Wirtschaft, Gewerkschaften und auch die Politik gemeinschaftlich einsetzen.

Die soziale Gesellschaft bringt Fortschritt für Menschen.

Die soziale Gesellschaft will wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mit dem Fortschritt für das kulturelle, soziale und ökologische Zusammenleben verbinden. Fortschritt war für die SPD nie nur etwas Technisches oder Wirtschaftliches, sondern sollte immer Fortschritt für die Entwicklung jedes Einzelnen und der ganzen Gesellschaft bedeuten.

Natürlich brauchen wir für die Umsetzung diese Idee einer sozialen Gesellschaft auch konkrete Instrumente. Ein paar Dinge liegen dabei auf der Hand: Die Schulden müssen runter – Innovation müssen rauf. Industrie und produzierendes Gewerbe müssen Wachstumsmotor bleiben und dafür braucht es Planbarkeit und Berechenbarkeit in den Rahmenbedingungen – vor allem bei der Energie. Europa braucht besseres Regieren, vor allem aber Investitionen in seine Zukunft und mehr statt weniger Zusammenarbeit und Demokratie. Das Schuften ohne fairen Lohn muss ein Ende haben. Wenn Top-Manager 20 Prozent mehr verdienen, dann sind 2 Prozent Lohnerhöhung viel zu wenig. Das zügellose Kapital braucht robuste europäische (besser noch: internationale) Regeln. Deutschland muss endlich auch bei Bildung und Betreuung an die Weltspitze. Unsere Städte und Gemeinden müssen wieder Heimat werden: lebenswert, sicher, sozial und kulturell interessant – für Junge ebenso wie für Alte. Und nicht zuletzt: Qualität in der Medizin für alle durch die Einführung einer Bürgerversicherung für alle ist das Alternativmodell gegen die Zwei-Klassen-Medizin. Und noch etwas gehört für uns zu einer sozialen Gesellschaft: ein menschlich anständiger Umgang mit Pflegebedürftigen. Das heißt auch: Eine anständige Bezahlung für Pflegerinnen und Pfleger. Dass dies alles aber nicht mit Steuersenkungen und auch nicht auf Pump geht, liegt auf der Hand. Einsparungen, Subventionsabbau und auch etwas höhere Steuern auf große Vermögen und Einkommen sind dafür notwendig. Auch das gehört zum Fortschritt in einer sozialen Gesellschaft.

Fortschritt für eine soziale Gesellschaft: eine Erfolgsgeschichte.

Wir haben allen Grund zum Optimismus, denn diese Idee einer sozialen Gesellschaft hat ja gerade im Wettbewerb gegen andere gewonnen. Es waren doch die sozialen Rahmenbedingungen und die Sozialpartnerschaft von Unternehmen und Gewerkschaften, die Deutschland besser durch die Finanzkrise gebracht haben als Staaten wie Großbritannien oder die USA.

Über diese Erfolgsgeschichte des Fortschritts in einer sozialen Gesellschaft lohnt es, zu sprechen. Nicht in abstrakten Sonntagsreden, sondern im Alltag, im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen, Nachbarn und Freunden. Der zentrale Unterschied zwischen der heutigen Regierung unter „Führung“ der Union und der künftigen unter der Führung der SPD wird sein, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zumuten und zutrauen, über das zu sprechen, was gut für das Ganze ist - statt immer nur an ihren Egoismus und ihre Einzelinteressen zu appellieren. Deshalb müssen wir auch für unser besseres Modell einer sozialen Gesellschaft bei den Menschen werben.

Lasst uns also darüber reden, diskutieren und vor allem dafür mutig streiten. Dann werden wir nicht nur Wahlen gewinnen, sondern vor allem besser regieren.

Mit allen guten Wünschen für die Sommerzeit

Euer Sigmar Gabriel

 

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